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Sven Rettieck:

HSK Top-Schachtraining
oder: ein absolut ge***s Wochenende!

Als Michael Lucas mir die Einladung zum 5./6.Juni schickte, nein besser, mir die Teilnahme an dem Trainingswochenende vorschlug, hatte er auch den Hintergedanken, die alte Ratzeburger Truppe mal wieder zusammenzuführen. Michael, Swen Dunkelmann, Stephan Bethe (leider hatte er aus privaten Gründen keine Gelegenheit für einen Besuch) und ich kennen uns seit bald 30 Jahren.
Thema des Wochenendes sollte sein (Auszug aus der Einladung):

"DECISION MAKING AND THINKING PROCESS IN CHESS"
mit GM Adrian Mikhalchishin

Adrian Mikhalchishin, ein Grossmeister seit 1978, gehört zurzeit zu den top 5 Schachtrainern und ist Vorsitzender des FIDE Trainer Committee. Er trainierte das Team der Sowjetunion in den 80er Jahren, die Nationalmannschaften von Slowenien, Polen und den Niederlanden und war von 1980-1986 Trainer des Ex-Weltmeisters Anatoly Karpov, Er trainierte Zsuzsa Polgar, Alexander Beliavsky, Maja Chiburdanidse, Arkadij Naiditsch und Vasily Ivanchuk.

Inhalt (Das Training ist in englischer Sprache!):
- Evaluation and planning
- Different kinds of plans
- Weakness as a key for correct plan
- Calculation - Prophylactics and technique
- Critical moment decisions

Nun, das klang schon einmal super-interessant. Kurz und gut, meine eigene Motivation hinterfragt und halbwegs prompt angemeldet. Vermutlich würde es eh wieder regnen, und dann könnte man die Zeit ja mal gut nutzen. Nun denn, bei strahlendem Sonnenschein (soviel dazu) betrat ich am Samstag den HSK -Turniersaal. Es war alles schon perfekt vorbereitet, der Beamer lief, CB 10 leuchtete bereits an der Wand, und in der Ecke saß ein gut gekleideter, freundlicher Mann hinter seinem Laptop. Neben uns 3 RZ'lern waren dabei: Rasmus Svane (LSV), Martin Fischer (SKJE), IM Bodnar (Tura Harksheide), sowie vom HSK Jonas Lampert, Björn Bente, Jonny Carlstedt, Markus Lindinger und Kevin Högy.

Nach ein paar einleitenden Worten von Michael und Mr. Mikhalchishin (im Folgenden werde ich ihn aus Vereinfachungsgründen "AM" oder "GM" nennen) legte der GM auch schon los. Sein versiertes Englisch bereitete zumindestens mir keine Probleme, dafür besitze ich schon zu viele englische Schachbücher :-). Und nach ein paar Minuten bereits wurde mir die großmeisterliche Fähigkeit klar, uns schachlich verhältnismäßig Ahnungslosen Probleme und Lösungen anschaulich und mit Begeisterung zu vermitteln. Seine Bonmots und Erzählungen - frei übersetzt - über die Spieler, deren Partien uns während der beiden Tage begegneten, habe ich mal diesem Bericht beigefügt, jeweils in Kursiv- und Fettschrift..

Los geht es bei AM immer mit ein paar Kombinationen oder anderen Aufgaben, zum Beispiel Endspielen. Er ist der Auffassung, vor jedem intensiven Training benötigt man zum Aufwärmen der Gehirnmuskeln einige lockere Übungen. Nun, so locker waren die gar nicht... Gleich anschließend ein Fragment aus Petrosian-Korchnoi (ich bleibe für den Rest des Artikels mal bei der englischen bzw. ChessBase-Schreibweise) aus dem Jahr 1977, gefolgt von Karpov-Spasski (1979). AM zeigte uns hier die Möglichkeiten, gegnerische Schwächen zu erkennen. Eine Schwäche ist ein Punkt oder eine Figur, die man angreifen kann - andersherum: kannste den Punkt oder die Figur nicht attackieren, ist es auch keine Schwäche. Logisch, oder?
Weiter geht's, mit Partiemomenten von Gavrikov, Short, Vallejo Pons und Leko, dessen Turmschwenk 19.Ta1 gegen Gurevic (WM-Halbfinale 2007, 3.Partie) scheinbar einen nachhaltigen Eindruck beim GM hinterließ - und anschließend auch bei uns. "Makagonov-Regel: hast du keinen besonderen Plan bereit, verbessere deine am schlechtesten platzierte Figur!" AM schöpfte hier aus seinem Erfahrungsschatz, und auch aus einer Unmenge in seinem Kopf gespeichertern Ideen. Prompt fielen ihm zu jedem Thema weitere Partien ein, die mit ähnlichen Ideen aufwarteten. "Multifunktional move: versuche stets, mit deinem Zug mehrere Ziele zu erreichen!" Zum Glück notierte ich mir fast von Beginn an die jeweiligen Partiedaten, um sie später in Ruhe anschauen zu können! Man sieht: eine halbe Stunde Top-Training wirkte schon :-))

Und so ging es Schlag auf Schlag, fast ohne Luftholen prasselten die Ideen und strategischen Momente auf uns ein, Begegnungen von Petrosian, Smyslov, Adams, Geller und vom Trainer himself (Druck auf der halboffenen e-Linie gegen den Punkt e7) - nur um mal Beispiele zu geben. "Russische Schachschule: alles erst einmal ins Zentrum stellen, Türme auf die d- und e-Linie und dann schauen, was so passiert!" Man merkte AM an: Das ist nicht nur ein Job, das ist eine Berufung für ihn! Und so baten wir nach über 2 Stunden um eine erste kleine Pause ("o.k., 5 minutes break"). Wow, ein toller erster Eindruck! So etwas habe ich noch nicht erlebt, der Kopf rauchte gewaltig. Und außerdem lernten wir so mal nebenbei, dass der beliebte "Igel" durch einen einfachen weißen Plan - konsequent angewendet - "nearly dead at this moment" ist.

"Gufeld und Geller waren berühmt und bekannt für ihre etwas voluminösen Bäuche. Beide hatten im späteren Verlauf ihrer Karrieren Probleme mit den Schachtischen, konnten daher nicht direkt davor, sondern nur seitlich versetzt sitzen. Bei einem sowjetischen Mannschaftsturnier begab es sich, dass sie gegeneinander spielten :-) Das Bild muss man sich einfach mal vorstellen: seitlich zum Tisch sitzende und bei ihren Zügen die Arme über das Brett reckende Protagonisten..."

Nach der Pause wieder ein paar Lockerungsübungen - Reshevski, Tal und Korchmar erfreuten uns mit Parteiauszügen. AM wollte auch nie nur den ersten Zug und die Einschätzung wissen, sondern zwang uns zum Durchrechnen, 10-12 Halbzüge erwartete er schon. Heftig! Nächstes Thema: "Elimination of a piece". Hier wurden vor allem Leichtfiguren aus dem Spiel genommen, und die Gewinnerseite konnte also faktisch mit einer Mehrfigur agieren. Selbst Botvinnik musste hier 1940 einmal leiden, gegen den vor kurzem verstorbenen, ehemalig ältesten noch lebenden GM Andor Lilienthal. Der Übergang zu "Prophylaxe" war nicht schwer, wobei hier vor allem fehlerhaft geführte Partien aufzeigten, welchen Drohungen man mit Respekt begegnen sollte. "Bronstein: Chess is a game of double attacks"

Unterbrochen nur von einer längeren Mittagspause, ging dieser erste Tag wie nix vorbei. Selbst beim Essen war der GM noch bereit, immer wieder auf Fragen von uns schachlichen Analphabeten einzugehen, so gab er Buch- und Partientipps (Analysen von Botvinnik, Smyslov "Smyslov said: chess contains of checks, pins, double attacks and unprotected pieces" sowie Keres).

Der 2.Tag verlief wie der erste: zu Beginn (und nach den Pausen immer) mal wieder Taktik zum Aufwachen ... Anschließend ging es fix weiter, über das Thema Leichtfiguren allgemein zum Verhältnis Läufer gg. Springer. "Botvinnik, zu Fischer befragt: "Er hat einfach niemals schlechte Figuren!" Ganz besonders die Regel Capablancas (wenn du nur einen Läufer hast, stelle deine Bauern auf die entgegen gesetzte Farbe) wurde mit guten, aber auch schlechten Beispielen untermauert. Selbst Anand - wenn auch vor fast 20 Jahren, gegen Gurevic 1991 - griff hier fehl. Tenor war jedoch: "Schach ist ein konkretes Spiel mit konkreten Regeln, aber die Regeln passen meist auch nur in den konkreten Situationen!" Will sagen, manchmal gibt es nur einen bestimmten Moment in der Partie, der eine Regel anwendbar macht. Einen Augenblick später, und sei es nur die etwas andere Stellung eines Bauern, kann diese Gelegenheit schon verpasst sein.

Mit einer gegnerischen Schwäche bzw. einem gegnerischen Schwachpunkt alleine kann man selten gewinnen, also gibt es "das Prinzip der 2 Schwächen" - großartig demonstriert anhand von Partien Fischers und Karpovs. Auch hier legte AM jedoch ein großes Augenmerk auf die Prophylaxe.

Die Problematik des Abtausches und der hieraus oft mögliche Übergang in (gewonnene) Endspiele war das nächste große Thema. Endspielregeln sind wichtig, sofern man einen kleinen Grundschatz besitzt. Sie erleichtern den Angriff, manchmal aber auch die Verteidigung schlechterer Stellungen. Vor allem die Partien Rubinsteins seien so einfach erklärbar und nachvollziehbar. Rubinstein schien manchmal - vereinfacht ausgedrückt - schnell in Endspiele abzuwickeln, in denen er mit großer Gelassenheit und Präzision die Vorteile auszunutzen verstand: in Turmendspiele (Schlechter-Rubinstein 1912) und auch reine Bauernendspiele (Cohn-Rubinstein 1908). Empfehlenswert zum Nachspielen! Aber: selbst Doc Huebner griff beim Übergang schon fehl (Huebner-Pfleger 1989).

Und der nächste Eröffnungstipp: "Tarrasch ist keine so gute Verteidigung" (Gelächter im Raum, und ein verlegen grinsender Jonny Carlstedt!)

Ganz am Ende eines ebenfalls tollen 2. Tages gab uns AM sogar noch einige (9!) kleine Datenbanken mit; hier waren viele der besprochenen Partien enthalten, aber auch weitere zu den jeweiligen Themen.

Mein Fazit: eine gelungene Investition! Zu einem Preis, den der GM wohl sonst für eine einzige Stunde nehmen wird, genoss ich zwei Tage intensiver Beschäftigung mit dem Reichtum des Schachs. Und: ich bin wieder mal richtig motiviert! Danke dafür!!

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